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#10 Der Berg Alpamayo

Kann es so etwas geben wie wahr werdende Träume?

Vor Jahren besuchte Heike die Cordillera Blanca zum Bergsteigen und kam mit einem großen Traum zurück nach Hause: den Alpamayo mit ihrer "Dicken" aufzunehmen.

Die Dicke ist eine Großformatkamera, die mit postkartengroßen Negativen gefüttert werden möchte. Die Technik ist simpel, robust und hat sich seit mehr als 100 Jahren bewährt. Qualität wiegt ein wenig und so bringt es die robuste Dicke zusammen mit ihrer Ausrüstung auf etwa 20kg. Passt natürlich alles formschön in einen großen Photorucksack. Nun könnte man diesen und sich selbst in ein Auto packen und zum Alpamayo einfach vorfahren.

Doch zum Alpamayo führt keine Straße oder Piste. Nur ein Wanderweg.

Das nächstgelegene Dorf (Hualcallan) liegt 15km Luftlinie vom Fuße des Alpamayo entfernt. Auf dem platten Lande mit einer Übernachtung zu schaffen. Leider ist hier nicht die Ebene von Norddeutschland...

Ein Blick auf die Wanderkarte zeigt unzählige eng bei einander liegende Höhenlinien, die der Wanderweg kreuzt. Es gilt, zwei Pässe zu queren, um ins Tal des Alpamayo zu gelangen. Einer davon auf 4800m Höhe. Recht dünne Luft. Von einem Wandersprinting ist also abzuraten. Besser ist es, den Weg auf mehrere Tage zu verteilen. Hat allerdings zur Folge, dass die Ausrüstung noch größer wird: Zelt, Schlafsack, Isomatte, Kochgeschirr und Verpflegung kommen hinzu.

Können wir das alles alleine schleppen?

Nein, wir brauchen einfach ein extrem robustes, geländegängiges, seit Jahrhunderten bewährtes Fahrzeug mit gutem Herzen. Einen Esel! Da wir für die Lenkung eines Esels keinen Führerschein haben, benötigen wir auch noch einen Führer, Ariero genannt.

Doch wie einen Ariero finden? Laut Auskunft im "Casa de Guias" in Huaraz werden wir im Dorf Hualcallan schon einen finden. Wir machen uns also auf den Weg. Unterwegs erhalten wir den Tip, in Hualcallan nach Erasmo zu fragen. Mit unserem vollgeladenem Bus queren wir auf einer schmalen Brücke den Rio Santa und kurven 1000 Höhenmeter hoch auf eine Ebene, wo uns das Dorf Hualcallan (S8.89777 W77.80217) begrüßt. Wir fragen uns zum Haus von Erasmo durch. Tatsächlich ist er zu Hause und kann gleich morgen mit uns auf eine zehntägige Wanderung gehen.

Er wirft einen prüfenden Blick auf unsere "kleine" Ausrüstung.

Kein Problem! Ein Esel und ein Pferd reichen für das "Schlepping".

Und was kostet das Ganze?

Also der Ariero bekommt 10 USD/Tag. Der Esel fünf und das Pferd acht.

Wir müssen das Essen und ein Zelt für Erasmo mitbringen. So hatte man uns dies auch in Huaraz erläutert. Essen haben wir reichlich mitgebracht und das Zelt mieten wir von Erasmo selbst. Für unseren Bus findet Erasmo geschwind auch eine sichere Unterkunft (Cochera) im Dorf.

Wir packen unsere Sachen. Morgen um acht geht es los! Mit einer Mischung aus Freude und Ehrfurcht blicken wir auf die hohe Wand, die sich steil über dem Dorf erhebt.

Am Morgen holt uns Erasmo mit der Eselin Miguelita und dem Pferd Alan Garcia ab. Unsere Taschen werden stramm auf den Beiden festgezurrt, wir schultern unsere Photoausrüstung und Tagesverpflegung und los geht es.

Im Nu haben die Drei uns abgehängt. Wir wandern die nächsten Stunden Serpentine für Serpentine aufwärts, nur Hualcallan scheint immer zum Greifen nah. Nachmittags, nach 7km und etwa 800 Höhenmetern treffen wir auf Erasmo. Er hat auf einer Bergwiese bereits die Zelte errichtet (S8.87650 W77.78534). Was für ein schöner Luxus. Doch er bleibt nicht zum Essen, sondern spaziert wieder hinunter ins Dorf, um den Abend bei seiner Familie zu verbringen.

Und bringt uns am nächsten Morgen frische Brötchen mit.

Den zweiten Tag geht es weiter beständig bergauf, von 3900m auf 4600m.

Nach knapp 6km übernachten wir an einer Lagune (S8.86548 W77.75956), umgeben von schneebedeckten Gipfeln. Von der Lagune geht ein Wasserkanal ab, hinunter ins Dorf Hualcallan und bewässert den fruchtbaren Boden der Hochebene. Der Kanal verläuft zum Teil entlang steiler Felswände und wir haben auf unserer Wanderung immer wieder dieses Bauwerk bewundert.

Das Abendprogramm füllt Erasmo mit reichlich Geschichten, mal lustig, mal vom harten Leben zeugend. Bevor wir in den Schlafsack kriechen, bittet uns Erasmo darum, ein Ohr auf Eselin Miguelita zu haben. Ihr GPS-Programm ist auf Heimat eingestellt und es könnte sein, dass sie einfach den Rückweg antritt. Also, falls wir tapp tapp tapp vorbei an unserem Zelt hören, bitte Alarm schlagen.

Der dritte Tag führt uns ins Tal des Alpamayo, doch zuvor gilt es, zwei Pässe von 4860m (S8.85768 W77.75537) und 4770m (S8.84332 W77.74632) zu überwinden. Nach Pass Nr. 2 geht es 1000m steil bergab in das Tal, welches bewohnt ist. Und der Weg, den wir gekommen sind, ist auch für die Talbewohner der direkteste Weg "nach draußen".

Am Tag 4 wandern wir bei Sonnenschein noch 8km im Tal bis zum Fuße des Alpamayo (S8.84600 W77.68178). Da das Tal leicht gekrümmt ist, öffnet sich der Blick auf den Alpamayo erst nach halber Strecke. Und auf einmal verstehe selbst ich Flachlandtiroler und Bergagnostiker Heikes Begeisterung!

Vor uns steht ein strahlendes Juwel. Der pyramidenförmige, schneebedeckte Gipfel über uns reflektiert unwirklich viel Sonnenlicht. Ein Diamant! Den wir mit seiner Umgebung die folgenden zwei Tage erkunden, photographieren und einfach bewundern.

Doch nicht nur die Bergwelt bewundern wir. Auch Erasmo und seine Kollegen. Am ersten Morgen füllt sich unser nachsaisonales leeres Camp plötzlich mit einem Trupp Arieros. Alle treffen sich, um eine Brücke über den Gletscherfluss zu bauen. Jeder bringt von weit her Baumaterial mit.

Gemeinsam werden, fast barfuss, im eiskalten Flußwasser riesige Steine bewegt, um ein sicheres Fundament zu erstellen, Zement gerührt, Verschalung gezimmert und Tags drauf steht eine neue Brücke. Die kokablattgefüllten Wangen gehören einfach dazu, um solch eine Leistung in dieser Höhe zu vollbringen, doch richtig gestärkt wird sich durch ein frisch gefangenes verwildertes Hausschwein, im Erdofen gegart.

Erasmo hatte uns bereits am ersten Abend vor diesen Schweinen gewarnt.

"Lasst nicht eure wohl duftenden Wanderschuhe draußen stehen", sagte er. Denn diese werden gerne von den Schweinen entführt. Ein Scherz? Vorsichthalber passen wir lieber auf unsere Schuhe auf.

Nach zwei Tagen wandern wir auf gleichem Wege wieder zurück nach Hualcallan, wo uns Geburtstagskind Erasmo und seine Frau mit einem feinen Mittagessen zurück in die "Zivilisation" entlassen.